Aufgeworfene Frage
Wie wollen wir mit unserem Ende umgehen? Der Tod ist der Satzpunkt am Ende des Satzes, den das Leben für uns schreibt. Der Tod beinhaltet das Ende der unablässig laufenden Zwiesprache eines Menschen mit sich selbst. Es ist etwas Unvorstellbares, denn ohne noch als Person zu denken, ist die Zeit nach dem eigenen Ende nicht vorstellbar. Ist das Leben wegen dem letztendlichen Ende durch den Tod sinnlos?
Meine Überlegungen
Der Tod ist der gleiche Zustand für uns wie vor der Geburt. Der nicht lebende Mensch ist bei beiden Zeitabschnitten nicht dabei. Er kann sie nicht „erleben“. Bei den Ereignissen vor unserer Geburt macht es uns keine Angst. Bei dem Gedanken an die Nachwelt verspüren wir ein unangenehmes Gefühl. Bei einer Operation mit einer Vollnarkose ist die Zeit zwischen Einleitung und Ende der Narkose einfach weg. So muss es sein mit dem Tod. Keine eigene Zeit mehr. Ist das schlimm?
Der Trend zu Longevity, ein Leben im Sinne der Langlebigkeit, soll durch die Anwendung von Techniken und gesundheitsfördernden Maßnahmen das Leben verlängern und könnte ein Ausdruck der Angst vor dem Tod sein. Die Illusion der Kontrolle beruhigt das Gemüt und hilft vordergründig bei der Bewältigung der Todesangst, aber es ist nur eine scheinbare Lösung, die die Dualität von Leben und Tod verdrängt. Dieser Trend führt zu noch mehr Selbstbeobachtung und noch mehr Konzentration auf die eigene Person. Das Umfeld und die Anderen nehmen im eigenen Denken entsprechend weniger Raum ein. Das verfolgte Ziel des langen eigenen Lebens trägt nicht über das eigene Leben hinaus.
Hinsichtlich der Frage, wann und wie wir sterben, können wir nur Einfluss auf die Wahrscheinlichkeiten der Umstände nehmen. Du kannst sehr gesund leben und das Haus nicht verlassen, um das Risiko des Sterbens an dem aktuellen Tag zu verringern. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit deines Todes in 120 Jahren mit sehr großer Wahrscheinlichkeit bei 100%, denn der älteste lebende Mensch war die Französin Jeanne Calment, die 122 alt geworden ist. Mehr wird es also wahrscheinlich auch bei dir nicht werden.
Die Beschäftigung mit dem eigenen Tod hat eine lange Tradition. Schon die griechischen Stoiker haben den Ausdruck »Memento mori – Gedenke des Todes« geprägt, der bei einem bewussten Leben helfen soll. Die Stoiker haben tugendhaftes Handeln und entsprechend ausgerichtete Entscheidungen als den Weg zum Glück begriffen und gelebt. Vertreter dieser Philosophie waren Epiktet, Marc Aurel und Seneca. Auch Sokrates wird von den Stoikern verehrt, da er in vielerlei Hinsicht sein Leben in stoischer Weise geführt hat. So hat er auch seine Verurteilung zum Tod durch das Trinken des Schierlingsbechers ruhig und gelassen angenommen und durchgeführt. Ihm war die Haltung in seinem Leben bis in den Tod wichtig und sinngebend.
Wenn du diese Zeilen liest, dann bist du am Leben. Halte inne und denke einen Moment darüber nach. Atme ein und aus, sieh dich um, rieche und schau dir deine Hände und deinen Körper an. Er trägt dich durch diese Welt. In deinem Körper sind Atome verbunden, die es schon Milliarden Jahre gibt. Für eine kurze Zeit bewohnst du diese Hülle. Das Wunderwerk des Gehirns generiert dich als Person. Ob deine Seele woanders herkommt und den Körper in Besitz nimmt, ist eine andere Frage, deren Beantwortung ich gerne dir überlasse. Dich hat es vorher nicht gegeben und dich wird es nie wieder geben. Oder doch (falls du an Wiedergeburt glaubst ☺)? Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei gleiche Menschen geboren werden, ist extrem gering. Was für ein erhebendes Gefühl kann das sein. Einzigartig für immer (auch falls du wiedergeboren wirst ☺).
Du bist Teil einer Generationenkette, denn wir bilden als Menschheit die Bewohner der Erde. Die Menschheit kann also auch als großer Organismus betrachtet werden. Eine Parallele kannst du zu vielen lebenden Gruppen, die aus Einzelwesen bestehen, ziehen. Sogar dein Körper ist eine Gruppe aus dir und vielen Mikroorganismen und auch deinem Mikrobiom im Darm. Dort ist die einzelne Bakterie ein wichtiger Teil des Ganzen, aber nur durch den ständigen Austausch der Einzelwesen und die Anpassung des Mikrobioms kann es gesund bleiben. Bei all diesen Systemen ist es so: Der Beitrag des Einzelnen spielt für die Gesamtheit eine Rolle, auch wenn der Einzelne entbehrlich ist. Menschen, die es schaffen, diesen Gedanken des Beitrags des Einzelnen zu der Gesamtheit zu verfolgen, empfinden häufig eine Zufriedenheit, die über das Glück des eigenen Lebens hinausreicht. Diese Zufriedenheit, die durch die Idee der Generativität der These des Longevity gegenübersteht, gilt es zu bedenken. Beispiele für Menschen, die ihr Leben so gestaltet haben, also ihre Leben im Sinne der Gemeinschaft gestaltet haben, sind Nelson Mandela, Mutter Theresa, Gandhi und doch auch die Wesenheit (Mensch oder Gott?) Jesus Christus.
»Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie« – das ist eine Erkenntnis des Psychoanalytikers Viktor Frankl, der das Konzentrationslager überlebt hat und dort beobachten konnte, welche Menschen das grauenhafte Umfeld überdauert haben und auch, was das Zusammenbrechen des Überlebenswillens auslösen konnte. Eine zentrale These ist, dass der Mensch einen Sinn im Leben braucht. Was ist dein Sinn?
Denkanregung
An dieser Stelle zitiere ich Marc Aurel (geboren 121 und gestorben 180, römischer Kaiser und Philosoph) und empfehle zu durchdenken, was er in seinen Selbstbetrachtungen niedergeschrieben hat. Fast 2000 Jahre alt und immer noch aktuell.
„Die Fähigkeit, ein glückliches Leben zu führen, ist in unserer Seele vorhanden, sie darf nur gegen gleichgültige Dinge sich wirklich auch gleichgültig verhalten. Und sie wird sich alsdann so verhalten, wenn sie jedes von ihnen teilweise und im ganzen betrachtet und sich erinnert, daß kein Ding uns zwingen kann, so oder anders davon zu urteilen, daß die Gegenstände nicht zu uns kommen, sondern unbeweglich stehen bleiben, vielmehr wir es sind, die die Vorstellungen von ihnen erzeugen und uns diese gleichsam selbst einprägen, während es uns doch freisteht, dieses Urteil darüber uns nicht zu bilden oder auch, wenn es sich etwa bei uns schon eingeschlichen hat, es sogleich wieder zu tilgen. Und einer solchen Vorsichtsmaßregel wird es nur auf kurze Zeit bedürfen, da unser Leben bald aufhören und dieser Besorgnis ein Ende machen wird. Was hat demnach dieses richtige Verhalten für große Schwierigkeiten? Denn, ist es naturgemäß, so freue dich dessen, und es muß dir leicht sein; ist’s aber naturwidrig, so untersuche, was deiner Natur gemäß ist, und strebe dann danach, auch wenn es dir keinen Ruhm einbringt. Jedem ist es gestattet, sein eigenes Wohl zu suchen.“
Wenn du noch mehr Anregung brauchst und den Film „Club der toten Dichter“ noch nicht kennst, dann empfehle ich dir, diesen Film zu schauen.
Lehrsatz
Dein Leben ist eine Gabe. Diese Gabe besteht aus einem dialektischen Zweisatz – zum Leben gehört der Tod. Tue was du tun willst so schnell wie es dir möglich ist und genieße jeden Atemzug von diesem unglaublichen Geschenk, das du bekommen hast. Gib nicht dem Leben mehr Zeit, sondern der vorhandenen Zeit mehr Leben! Carpe diem! Sieh dich dabei als Teil von etwas Größerem und suche nach deinem Beitrag und deinem Sinn.